Die Estlandsschweden

Ein kurzer Überblick über die Geschichte der Estlandschweden

Bald ist ein halbes Jahrhundert vergangen seit dem die letzten Estlandschweden ihr Heimatland verlassen haben, um ein neues Leben in Schweden zu beginnen. Die Flucht hatte zur Folge, daß die schwedischen Siedlungen in Estland mit Wurzeln aus dem 13.-14. Jahrhundert verfielen. Die Schweden lebten verstreut von Runö in der Rigabucht bis Tallinn (Reval) sowie im besonderen auf Nuckö und Ormsö an der estnischen Nordwestküste. Haupterwerbe der Schweden waren Landwirtschaft, Tierzucht und Fischen. Kontakte mit Schweden und der schwedischen Minderheit in Finnland wurden in verschiedener Art gepflegt: Schwedische Pfarrer arbeiteten in schwedischen Gemeinden, der Schulunterricht fand auf Schwedisch statt, und es gab zahlreiche Seetransporte zwischen Estland und Schweden. Im Zeitraum 1920-43 gab es eine schwedische „Heimvolksschule Birkas“ („folkhögskola“, die nicht mit deutschen Volkshochschulen zu verwechseln sind) und in den Jahren 1931-43 sogar ein schwedisches Gymnasium in Hapsal. Im Jahre 1939 war die Anzahl Estlandschweden ca. 8.000. Die meisten flüchteten während des Krieges nach Schweden, nur einige wenige Hundert blieben in Estland zurück.

Sutlep-Kapelle. (Inzwischen ins Freilichtmuseum Rocca al Mare in Tallinn gebracht).
Sutlep-Kapelle, Einrichtung.

Mehr als sechs Jahrhunderte lebten Schweden in Estland. Die älteste erhaltene Urkunde, in der Schweden genannt werden, ist das Stadtrecht der Stadt Hapsal aus dem Jahre 1294. Die Einwanderung setze im Mittelalter fort, und Schweden siedelten sich in neuen Gebieten an. So entstanden folgende schwedische Orte: Nuckö, Ormsö, Odensholm, (Nord-)Dagö, Runö, Vippal, Korkis, Klein und Groß Rägö sowie (später) Nargö – die meisten Orte sind nach wie vor bewohnt. Darüber hinaus gab es mehrere Siedlungen entlang der Küste. Auch die Stadt Tallinn (Reval) beheimatete einen wesentlichen Anteil Schweden.

Wieso Schweden sich an der estnischen Küste niederließen, ist nicht sicher geklärt. Sie kamen aus Schweden und Nyland in Finnland und ließen sich nieder in Gebieten mit nährstoffarmen Feldern, aber mit Zugang zu fischreichen Gebieten der Ostsee und graßreichen Feldern an den Stränden. Die Schweden kamen in Gebiete, die überwiegend dem Bischoff oder Klostern gehörten, und hier wurde ihnen „Schwedisches Recht“ zugesichert, d.h. persönliche Freiheit, während deren estnische Nachbarn wesentlich mehr abhängig von ihren Adelsherren waren.

Als Folge der Reformation im 16. Jahrhundert kamen die Böden in den Besitz des Staates. Nach dem russischen Angriff 1558 und langen Streitigkeiten kamen Estland und große Teile Livlands unter schwedische Hoheit.

Bewohner Rägös Mitte des 19. Jahrhunderts (nach einer Lithographie H. Schlichtings.)
Netzfischerei auf dem Eis zwischen Klein Rägö und Baltischport (Paldiski).

Im 17. Jahrhundert überließ der Staat die Siedlungen mit den freien, schwedischen Bauern an Adlige, die die Rechte der Schweden jedoch nicht beachteten. So mußten auch die Schweden in einem Feudalwesen leben, und ein Gutswesen auf Leibeigentum basierend wurde aufgebaut.

Schlimmer wurde es jedoch im 18. Jahrhundert und Anfang des 19. Jahrhundert unter russischer Hoheit, als das Land überwiegend von der baltischdeutschen Ritterschaft verwaltet wurde. Schweden, die auf ihre Freiheitsbriefe hinwiesen, wurde von ihren Bauernhöfen vertrieben und durch Esten ersetzt. Auf den kleineren Inseln waren die Verhältnisse etwas tolerabler. Runö und Nargö waren im Besitz des Staates; Odensholm und die Rägö-Inseln gehörten zwar zu Adelsgütern, aber diese lagen auf dem Festland.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert änderte sich die Entwicklung. Neue Bauerngesetze begrenzten die Befugnisse der Gutsherren, verboten physisches Bestrafen, gaben den Bauern kommunales Selbstverwaltungsrecht, Reise- und Gewerbefreiheit und verlangten die Einrichtung von Volksschulen. Am wichtigsten war jedoch die Möglichkeit, den eignen Bauernhof vom Gutsherren freizukaufen. Das „sich freikaufen“ begann im Süden des Landes. Die schwedischen Siedlungen finanzierten den Kauf der Freiheit mit einem erweiterten Anbau von Kartoffeln, die sie mit eigenen Schiffen in Schweden und Finnland verkauften.

Das Reeddach von „Erkas’ Hof“ wird in Stand gesetzt, 1926.
Kursaal im Badeort Hapsal, die „Hauptstadt“ der Estlandschweden.

In den 1870ern entsandte die Evangelische Vaterlandsstiftung (Evangeliska Fosterlandsstiftelsen) schwedische Lehrer an die neu eingerichteten schwedischen Schulen. Neben dem Unterricht veranstalteten diese auch oft religiöse Treffen und „Erweckungen“, die sich in den Siedlungen verbreiteten. Diese Bewegungen verhielten sich leider abweisend gegenüber der um die Jahrhundertwende aufblühenden Entwicklung hin zu mehr säkularer Bildung. Als das Zarenregime ab ca. 1880 eine konsequente Russifizierung initiierte, kam das gesamte Schulwesen unter Druck. Rußlands Niederlage im Krieg gegen Japan und die darauffolgende Revolution 1905 schwächten jedoch den Druck Rußlands, was im ganzen Land zu einer neuen Bewegung von Vereinsgründungen führte. 1909 gründete sich in den schwedischen Siedlungen ein Kulturverein, Svenska Odlingens Vänner, frei übersetzt Schwedischer Landfreundeverein. Dieser Verein ist nach wie vor die zentrale Organisation der Estlandschweden. Besonders in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war der Verein sehr aktiv. So wurden beispielsweise Schwedischunterricht, Sonntagsschule und Bibliotheken organisiert.

Ein Schiff wird auf Ormsö gebaut.
Das Postschiff Runös an Kaj in Arensburg (Kuressaare), 1910ern.

Rußlands Niederlage im Krieg und die folgenden politischen Unruhen ermöglichten es Estland, die nationale Selbständigkeit zu erkämpfen und eine Republik zu gründen. Ein jahrhundertlang unterdrückter Freiheitsdrang wurde nun auf vielen verschiedenen Gebieten ausgelebt, sicherlich besonders auf dem kulturellen Feld. Das galt auch den Schweden, die versuchten, mit der estnischen Entwicklung Schritt zu halten. Mit reichsschwedischer Hilfe verbesserte man seine Schulen und knüpfte engere Verbindungen mit Schweden und Finnland, wo ebenfalls das Interesse für Estland wuchs. Im Jahre 1917 wurde der „Schwedische Volksverbund“ (Svenska folkförbundet) gegründet, der sich um die politischen und sozialen Interessen der Estlandschweden kümmerte. Des weiteren begann man, die Zeitschrift Kustbon („Küstensiedlung“) herauszugeben. Erst in dieser Zeit fing man an, die Bezeichnung „Estlandschweden“ zu verwenden, dies in Anlehnung an die Finnlandschweden, d.h. der schwedischen Minderheit in Finnland.

Die politischen Unruhen in Europa, die große ökonomische Depression und der Bruch in der politischen Tradition des Landes führte Anfang der 1930er zu einer Diktatur. Diese war sicherlich zurückhaltend und wurde als Übergangsphänomen dargestellt, sie bestand jedoch bis zum Kriegsausbruch.

Der sogenannte Molotov-Ribbentrop-Pakt zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion erklärte Estland zu einem Teil der russischen Interessenssphäre. Im Herbst 1939 zog die Rote Armee ein. Nargö, die Rägö-Inseln und Odensholm wurden russische Militäranlagen und die lokale Bevölkerung wurde gezwungen, die Inseln zu verlassen. Diese Umwälzungen drohten die gesamtem estlandschwedischen Kulturbemühungen zu vernichten, und deshalb versuchte man, eine Ausreise der Estlandschweden nach Schweden zu ermöglichen. Eine Ausreisegenehmigung bekam man jedoch nicht.

1941 verletzte Nazi-Deutschland den Pakt mit der Sowjetunion und griff an. Die deutschen Truppen besetzten schnell die baltischen Länder, aber trotz des schnellen Kommens hatten die Russen Teile der Zivilbevölkerung deportiert und wehrfähige junge Männer eingezogen und abtransportiert.

Auch nicht die neuen Machthaber ermöglichten eine generelle Ausreise der Estlandschweden nach Schweden. Statt dessen begannen Estlandschweden in kleinen Booten im Schutze der Dunkelheit zu flüchten. Die Niederlagen Nazi-Deutschlands an der Ostfront führten zu einer Lockerung der Politik und sogenannte Krankentransporte wurden ermöglicht. Arbeitsfähige junge Männer bekamen jedoch keine Erlaubnis, bei diesen Transporten mitzukommen und waren darauf angewiesen, auf eigene Faust zu flüchten.

Nargö wurde eine Militäranlage und die Zivilbevölkerung mußte die Insel räumen. Einige Bewohner Nargös mit ihrem Hab und Gut im Hafen Tallinns (Revals) im Juli 1914.
Kanzel der Kirche auf Ormsö aus dem Jahre 1660.

Im Herbst 1944, bevor die Ostfront zusammenbrach, flüchteten 80.000 Menschen aus Estland, bevor die Russen wieder das Land besetzten. Ca. 25.000 Menschen kamen nach Schweden, und da waren bereits ca. 8.000 Estlandschweden nach Schweden gekommen. Die schwedischen Siedlungen Estlands waren damit fast komplett geräumt.

Die Estlandschweden hatten nicht viel ihres persönlichen Eigentums mitnehmen können, aber sie hatten ein spezielles Kulturerbe. Der Kulturverein „Svenska Odlingens Vänner“ nahm in Schweden relativ schnell seine Arbeit wieder auf. In den letzten 50 Jahren hat er Bilder und Dokumente, Gegenstände und Trachten gesammelt und in etlichen Schriften das Kulturerbe der Estlandschweden dokumentiert, das Buch „En bok om Estlands svenskar“ (Ein Buch über Estlandschweden) ist vor kurzem in vier Bänden erschienen.

Des weiteren ist ein neuer Verein gegründet worden, Svenska Odlingens Nya Generation, dessen Aufgabe es ist, das Interesse für die Geschichte und Kultur der Estlandschweden bei Kindern und Enkeln zu wecken. Seit der Auflösung der Sowjetunion und der Befreiung Estlands sind neue Möglichkeiten entstanden, Kontakte mit den früheren Siedlungen, dem alten Vaterland und der in Estland gegründeten „Gesellschaft für Estlandschwedische Kultur“ zu pflegen.

(Dieser Text wurde am 25. August 2003 von David Nicolas Hopmann übersetzt, dnh@gmx.de).